„Hör zu, Walter, du musst die Sache mit den Kindern aufklären!“ Mit diesem Satz beginnt in dem ARD-Dokudrama „Die Nazijäger“ eine Geschichte in der Geschichte. Was mit dem Porträt einer Sondereinheit zur Aufklärung von Kriegsverbrechen in der Britischen Armee 1945 startet, weitet sich zu der Rekonstruktion eines ihrer bedrückendsten Fälle: Die Kindermorde vom Bullenhuser Damm. Mit 2,4 Millionen Zuschauenden bei der Erstausstrahlung am 16.01.2022 und 600.000 Aufrufen in der ARD-Mediathek allein in den ersten Tagen verschafft die Produktion den damaligen Ereignissen eine aktuelle Aufmerksamkeit, die sich vielleicht nur mit der Artikel-Serie von Günther Schwarberg 1979 im „stern“ vergleichen lässt. Schwarberg schrieb die Geschichte der „Kinder vom Bullenhuser Damm“ erstmals in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik ein, auf ihn und seine Frau Barbara Hüsing geht auch die Einrichtung einer Gedenkstätte am Tatort zurück – im Keller der früheren Volksschule, die zwischen dem Bullenhuser Damm und der Grossmannstraße im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort liegt.
Interviews an Originalschauplätzen
Als heutige Grundstückseigentümerin unterstützte die städtische Billebogen Entwicklungsgesellschaft im Sommer 2021 die Dreharbeiten. „Wir haben in der Schule Interviews mit den Zeitzeuginnen Tatiana und Andra Bucci geführt“, berichtet der Produzent Michael Kloft von Spiegel TV. „Es war für die beiden alles andere als leicht, denn dies ist der Ort, an dem ihr Cousin Sergio de Simone von der SS ermordet wurde.“ Tatiana und Andra Bucci überlebten als jüdische Kinder Auschwitz und fanden nach dem Krieg ihre Eltern wieder. Sergio war solches Glück nicht beschieden: Nachdem der SS-Arzt Dr. Kurt Heißmeyer ihn im KZ Neuengamme für medizinische Experimente missbraucht hatte, wurde er wenige Wochen vor Kriegsende getötet. Zusammen mit ihm starben in der Nacht vom 20. April 1945 in der zu einem Außenlager von Neuengamme umfunktionierten Schule am Bullenhuser Damm 19 weitere Kinder aus ganz Europa. Alle hatten zuvor das gleiche Schicksal als lebende Versuchsobjekte Heißmeyers erlitten. Mit den Kindern starben vier erwachsene Gefangene aus Neuengamme, die sich um sie gekümmert hatten, und 24 sowjetische Kriegsgefangene, deren Identität bis heute ungeklärt ist.
Gewisse künstlerische Freiheiten
Das Dokudrama „Nazi-Jäger“ erzählt die Geschichte aus der Perspektive der britischen Sondereinheit, die 1945 /1946 Verbrecher wie den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß in Norddeutschland aufspürte. Die Verhaftung des KZ-Leiters von Neuengamme, Max Pauly, bringt die Ermittler den Menschenversuchen und Kindermorden im Lager auf die Spur. Eine zentrale Figur ist Anton Walter Freud, Enkel des berühmten Psychoanalytikers, der die Geschichte der Kinder aufdeckt. „Was er damals erfahren hat, muss für ihn schier unerträglich gewesen sein. Er hat später praktisch nie mehr davon gesprochen“, so Kloft.Gewisse künstlerische Freiheiten
Mindestens ebenso präsent wie das still entschlossene Gesicht von Franz Hartwig als Freud sind jedoch die Darstellenden der Kinder – allen voran Emil Denev als Sergio de Simone sowie Mila Denev und Ava Skuratovski als Andra und Tatiana Bucci. Die Szenen, die das Leben der Kinder nachstellen, nehmen sich wie vergleichbare Szenen in anderen Dokudramen gewisse künstlerische Freiheiten. Dabei wird der Bruch zwischen Fiktion und Realität jedoch ausdrücklich betont: So sieht man, wie die jungen Darstellenden in ihre Rolle schlüpfen – Make up, Haarschnitt und Kostümprobe inklusive. In anderen Szenen sind sie in ihrer Alltagskleidung zu sehen. Produzent Kloft legt Wert darauf, dass die Produktion sich inhaltlich insgesamt eng an die historischen Recherchen und überlieferten Dokumente halte: „Alle Aussagen der Täter entsprechen genau den Protokollen.“ So stellt der Film nebenbei verschiedene Täterprofile vor: Vom Zyklon-B-Produzenten (Dr. Bruno Tesch, gespielt von Thomas Lawinky) über dem SS-Arzt (Patrick Güldenberg als Lagerarzt und Heißmeyer-Helfer Dr. Alfred Tzerbinsky) bis zum Lagerführer und Henker (Johann Frahm, gespielt von Peter Sikorski).
Historische Genauigkeit
Die von Schwarberg und Hüsing gegründete Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm hätte sich an einigen Stellen die historische Genauigkeit dennoch umfassender gewünscht. „Es werden nur 13 Kinder in dem Film dargestellt. Für die Angehörigen wäre es wichtig gewesen, dass alle 20 genannt worden wären“, sagt die Vorsitzende Nicole Mattern. Die Vereinigung und die Gedenkstätte hatten die Produktion ebenfalls unterstützt. Auch werde nicht deutlich, dass es sich ausschließlich um jüdische Kinder handele, kritisiert Mattern. Diese Information hat Produzent Kloft inzwischen im Abspann ergänzt. „Für die Filmhandlung haben wir uns entschieden, uns stärker auf bestimmte Kinder zu konzentrieren, mit denen sich die Zuschauenden identifizieren können. Natürlich stehen ihre Biographien aber stellvertretend für alle ermordeten Kinder“, sagt er.
Zusätzliche Dokumentation
Auch nach der Fertigstellung des insgesamt rund 90minütigen Dreiteilers ist noch reichlich Filmmaterial vorhanden. „Wir haben die Basis für eine zusätzliche Dokumentation, in der zum Beispiel weitere Zeitzeugen-Interviews ihren Platz finden könnten, die in der Schule und anderen Originalschauplätzen wie Neuengamme und Auschwitz gedreht wurden. Das Projekt würden wir gerne noch umsetzen“, betont Kloft. Vorerst aber werden die „Nazi-Jäger“ demnächst auch in den Dritten Programmen der ARD sowie im italienischen Fernsehen zu sehen sein. „So ein Film erreicht eine weitaus größere Gruppe an Menschen als wir es mit der Gedenkarbeit jemals vermögen. Und wenn auf diese Weise die Sensibilität für das Thema gestärkt und die Erinnerung wachgehalten wird, ist das eine gute Sache“, so Mattern.
Henrike Thomsen
„Nazi-Jäger – Reise in die Finsternis“
Regie: Raymond Ley; Buch: Hannah und Raymond Ley; Musik: Steffen Britzke
Mit Tatiana Bucci, Andra Bucci, Franz Hartwig, Robin Sondermann, Peter Sikorski, Thomas Lawinky, Patrick Güldenberg, Emil Denev, Mila Denev, Ava Skuratovski, Marie Florentine Kollmar und vielen anderen Mitwirkenden
Gedenkstätte Bullenhuser Damm
Bullenhuser Damm 92, 20539 Hamburg
Öffnungszeiten: sonntags 10-17 Uhr und nach Vereinbarung; nächste Führung: 06.02.2021, 14 Uhr
Der Rosengarten ist immer geöffnet. Eintritt frei.